In der Sterbebegleitung solle es mehr Spiritualität geben. Dies ist heute eine gängige Forderung bei der Begleitung von Menschen im Sterben. Viele Palliativstationen und ebenso viele Hospize wagen sich damit an einen Begriff heran, der bislang noch nicht salonfähig ist. Wer diesen Begriff benutzt, wird leicht abwertend mit dem Begriff „esoterisch“ belegt und damit nicht mehr ernst genommen.
Zudem ist der Begriff Spiritualität noch nicht ausreichend definiert, womit bisher unklar bleibt, was genau gefordert wird. Was bedeutet Spiritualität?
Ein ernstes Gespräch über die Form einer anstehenden Beerdigung zu führen, hat noch nichts mit Spiritualität zu tun. Ein offenes Ohr dafür zu haben, welche Patientenverfügung oder welches Testament aufgesetzt werden soll, ebenso wenig. Selbst ein Gespräch über mögliche Konflikte, die ein Sterben behindern können, ist nicht zwingend eine Hinwendung zu spirituellen Themen. Insofern ist auch die von Franco Rest veröffentlichte „Spirituelle Patientenverfügung“ keineswegs spiritueller Natur, es handelt sich vielmehr um eine psychologische Evaluation – auch wenn die Fragen der Verfügung durchaus tief gehend sind.
In den 50er Jahren zu meiner Kinderzeit gab es eine Fernsehwerbung: Ein Mann mit ernstem Gesichtsausdruck schwenkte sein Weinbrandglas und sagte langsam und eindringlich: „In diesem Weinbrand ist der Geist des Weines!“ Ich war fasziniert und beeindruckt – ein eingefangener Geist!
Der Geist, der „Spiritus“– wie er in der Übersetzung heißt – bedeutet, dass in jeder Materie und in jedem Phänomen eine Essenz – ein eingefangener Geist – steckt, die immaterieller Natur ist. Im Fall der Fernsehwerbung geht es natürlich um den Geist des Weinbrands.
Im Fall eines Lebewesens, geht es um seine jeweilige Essenz, die fortbesteht, auch wenn sein Körper nicht mehr existiert. Weiter gedacht bedeutet dies, dass eine Eibe einen anderen Spiritus in sich trägt, als eine Buche, ein Huhn einen anderen Spiritus in sich trägt, als eine Kartoffel und ein Computer einen anderen, als ein Gedichtband.
Spiritualität in der Sterbebegleitung zu wünschen und zu fordern, würde letztlich bedeuten, dass alle Beteiligten in sehr hohem Maße umdenken. Und da genau fängt das Problem unserer heutigen aufgeklärten und vernünftigenGesellschaft an: je materieller eine Gesellschaft ist, desto weniger wird ein Geist (ein Spiritus) angenommen – ganz einfach deshalb, weil ein materielles Konzept einen Spiritus nicht messen und wiegen kann. Etwas nicht-Materielles entzieht sich ganz einfach der Überprüfbarkeit. Und deshalb versagen auch unsere bekannten Messgeräte.
Wenn sich ein Geist, ein Spiritus, in einem Menschen befinden sollte, so müsste er in allem, was er tut, in allem was er denkt und rät, die Essenz mit einbeziehen und berücksichtigen. Konsequent weiter gedacht wäre dann die (als spirituell gemeinte) Frage danach, wie sich jemand seine Beerdigung vorstellt, schon ad absurdum geführt. Denn wenn es sich beim Sterben um das Freiwerden eines Geistes handelt, wird dieser sich unabhängig von seinem Körper bewegen. Es würde also immer nur der „alte Mantel“ (die Körperhülle) bestattet, niemals aber der Geist, der Spiritus. Eine spirituelle Sichtweise würde somit auch jede pompöse Bestattung in Frage stellen, denn dann wäre klar, dass niemals ein Mensch/ein Geist beerdigt oder gar verbrannt werden könnte.
„Wir leben in einer Welt, in der Beerdigungen wichtiger sind als der Verstorbene, die Ehe wichtiger ist als Liebe, das Aussehen wichtiger als die Seele. Wir leben in einer Verpackungskultur, die Inhalte verachtet.“
Sir Anthony Hopkins
Konsequent weiter gedacht müsste sich ab diesem Moment jede Sterbe- und Trauerbegleitung revolutionieren, ganz einfach, weil zwischen Geist und Körper/Materie unterschieden würde. Meist wird in gängigen Trauerbewältigungsstrategien die Erinnerung gepflegt und unterstützt. Das ist schön, reicht aber nicht, denn diese bleibt in Gedankenpflege und Erinnerung stecken.
Trauer ist dann geheilt, wenn beide Seiten einverstanden sind und es ihnen gut geht. Wenn ein Geist weiterhin besteht, gibt es die Möglichkeit, sich einer neuen Kommunikation – über den letzten Atemzug hinaus – hinzuwenden. Diese Form der zukünftigen Verbindung nach einem Tod wird heute leider keineswegs in Erwägung gezogen. Möglicherweise deshalb, weil ein solcher Gedanken undenkbar ist und „nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Die großen Religionsgemeinschaften (Judentum/Christentum/Islam) haben in den vergangenen Jahrtausenden viel dafür getan, dass nach einem Tod jede Verbindung zu unseren Lieben gekappt wird. Mit dem Dogma der theologischen Grundsätze wird jede Verbindung zu unseren Lieben unterbunden indem die heiligen Schriften den Kontakt mit Verstorbenen als „Hexenwerk“ bezeichnen. Gleichwohl hat sich unser Brauchtum immer an die Verstorbenen gewendet.
Laut Untersuchungen sprechen viele Menschen, wenn sie zum Friedhof gehen, mit ihren verstorbenen Angehörigen. Hierbei stellt sich mir jedoch die Frage, ob es sich tatsächlich um ein Gespräch handelt oder eher um einen Monolog. Ein Gespräch hat ein Gegenüber – ein Monolog nicht. Ein Monolog erwartet kein Gegenüber und berücksichtigt dies auch nicht. Wenn es aber einen Spiritus gibt, dann würden sich für diese Gespräche völlig andere Voraussetzungen ergeben. Dann besteht die Möglichkeit, und die Erwartung, dass es eine Antwort gibt.
Das Entscheidende an dem spirituellen Ansatz der Sterbeammen-/Sterbegefährten-Akademie ist, dass sterbende Menschen darin unterstützt werden, mehr zu erkennen, als die bloße Identität als Mensch. Die Welt sieht anders aus, wenn wir lernen, uns als mehr, denn nur Materie zu begreifen. Wir können angeregt werden, über den letzten Atemzug in eine völlig ungewisse und möglicherweise unvorstellbare Zukunft zu denken.
Die Begleitung Trauernder beinhaltet dementsprechend, diese dabei zu unterstützen, eine Verbindung zu einer weiter bestehenden Essenz – dem Spiritus – aufzubauen.
Diese Form der Begleitung könnte nur von denen geleistet werden, die sich erlauben, die Möglichkeit eines Spiritus anzunehmen und ebenso bereit sind, diese Gedanken eindeutig und klar und konsequent umzusetzen.
Erlauben wir uns doch, strikt und zielgerichtet weiter zu denken. Wir sollten Aussagen zur Spiritualität daran messen, wie sie umgesetzt werden. Dann können wir leicht entscheiden, ob es sich um eine standfeste Haltung handelt, oder nur um eine Floskel.